ELISE – Negative Wasserstoffionen für die Neutralteilchenheizung an ITER
Forschungsbericht (importiert) 2011 - Max-Planck-Institut für Plasmaphysik
Das Experiment
Im August 2009 wurde der Startschuss für den Bau der Testanlage ELISE (Extraction from a Large Ion Source Experiment) gegeben. Ziel ist ein flexibles Experiment zur Erzeugung eines Ionenstrahls aus negativen Wasserstoffionen mithilfe einer großen hochfrequenz-getriebenen Ionenquelle [1]. Das Projekt ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Plasmaheizung per Neutralteilcheninjektion für das internationale Fusionsexperiment ITER, das derzeit im südfranzösischen Cadarache gebaut wird.
ELISE wird von "Fusion for Energy" (F4E), der europäischen Agentur für den Aufbau von ITER, mit vier Millionen Euro über vier Jahre hinweg gefördert. An die Bauzeit von zwei Jahren schließt sich ab Juni 2012 der Experimentbetrieb von zwei Jahren an, um die für ITER geforderten Parameter zu erreichen: Eine Stromdichte von negativ geladenen Wasserstoffionen (Deuterium) von 200 A/m2, homogen aus einer großen Hochfrequenz-Ionenquelle, stabil über eine Stunde. Um die Beschleunigungsgitter durch die unvermeidlich mitextrahierten Elektronen thermisch nicht zu überlasten, muss deren Stromdichte gleich groß oder kleiner sein als die der Ionen.
Den Entwurf der Testanlage ELISE mit der Ionenquelle zeigt Abbildung 1. Die Ionenquelle hat die Breite der für die ITER-Heizung vorgesehenen Quellen (0,9 m), aber nur die halbe Höhe (1 m). In der Ionenquelle wird durch Einkopplung von Hochfrequenz-Generatorleistung von maximal 360 kW ein Wasserstoffplasma im Niederdruckbereich (0,3 Pa) erzeugt. Die zur Extraktion und Beschleunigung vorgesehene Gesamtspannung beträgt 60 kV, was der Vorbeschleunigerstufe des Neutralteilcheninjektionssystems für ITER entspricht. Der Teilchenstrahl wird aus ionenoptischen Gründen aus 640 Extraktionslöchern und insgesamt 0,1 m2 Extraktionsfläche erzeugt. Das Extraktionssystem besteht aus drei Gittern aus galvanisch abgeschiedenem Kupfer – Spezialanfertigungen am Rande der Machbarkeit. Die Herstellung des mittleren Gitters, des Extraktionsgitters, ist eine besondere Herausforderung: Es enthält Permanentmagnete, um die mitextrahierten Elektronen aus dem Ionenstrahl auf die Gitteroberfläche abzulenken. Dabei treten lokal sehr hohe Leistungsdichten bis zu 40 MW/m2 auf, was ein ausgeklügeltes Kühlkanalsystem erfordert. Die Ionenquelle und das Gittersystem sind über einen Isolationsflansch und einen Vakuumschieber – mit einem Durchmesser von 1,25 m der größte, der auf dem Markt erhältlich ist – mit einem großen Vakuumtank verbunden. Dieser ist mit zwei schnellen Kryopumpen (Saugleistung für Wasserstoff je 320 000 l/s) ausgestattet und enthält ein Kalorimeter zur Messung der Strahlleistung. Für den Betrieb mit Deuterium ist wegen der dann ablaufenden Deuterium-Deuterium-Fusion aus Strahlenschutzgründen eine Neutronenabschirmung notwendig.
Die Neutralteilchenheizung für ITER
Die Neutralteilchenheizung für ITER [2] beruht auf dem Einschuss von schnellen neutralen Wasserstoffteilchen (H oder D) in das magnetisch eingeschlossene Fusionsplasma. Beim Zusammenstoßen geben sie ihre Energie an die Plasmateilchen ab – eine der leistungsstärksten Heizmethoden, die in heutigen Anlagen auch am häufigsten eingesetzt wird. Bei ITER ist eine Heizleistung von 33 MW aus zwei Injektoren geplant, der Aufbau eines dritten Injektors ist vorgesehen. Abbildung 2 zeigt den Aufbau eines solchen Injektionssystems und vermittelt gleichzeitig einen Eindruck von dessen Größe. Die für ITER vorgesehene Teilchenenergie von 1 MeV ist ein Kompromiss zwischen verschiedenen Anforderungen: der gewünschten zentralen Heizung, der Leistungsmaximierung und einem hohen, im Plasma getriebenen Strom von einigen MA. Letzterer soll im Tokamak ITER den induktiven Strom ersetzen und somit kontinuierlichen Betrieb ermöglichen.
Um Wasserstoffatome beschleunigen zu können, müssen sie zunächst als geladene Teilchen – als positive oder negative Ionen – für elektrische Kräfte greifbar werden. Die anschließend notwendige Neutralisation des Ionenstrahls, die durch Stöße mit Wasserstoffgas in einem "Neutralisator" erfolgt, ist für positiv geladene Ionen bei so hohen Energien sehr ineffektiv. Daher müssen für ITER negative Ionen verwendet werden, die hier immer noch zu 60 Prozent neutralisiert werden können. Die übriggebliebenen Ionen werden magnetisch auf einen "Ionensumpf" aus dem Strahl abgelenkt und weggekühlt. Der Neutralstrahl kann mit einem Kalorimeter vermessen werden, das dazu in den Strahl eingeklappt wird.
Neutralinjektionssysteme, die mit positiven Wasserstoffionen und Beschleunigungen bis zu 150 keV arbeiten, sind routinemäßig an den meisten Fusionsexperimenten weltweit im Einsatz. Dagegen stellt die Entwicklung von leistungsstarken Hochfrequenz-Ionenquellen für negative Wasserstoffionen, ebenso wie die gewünschte Beschleunigung des Ionenstrahls mit 40 A auf 1 MeV, vor völlig neue Herausforderungen.
Die Vorexperimente
Am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) werden für den Einsatz bei ITER seit 2002 Hochfrequenz-Quellen für negativ geladene Ionen entwickelt. Aufbauend auf der Erfahrung mit den hochfrequenz-getriebenen Quellen für positiv geladene Ionen, die an den Garchinger Fusionsanlagen ASDEX Upgrade und Wendelstein 7-AS routinemäßig in Betrieb sind bzw. waren, begannen die ersten Untersuchungen zur Erzeugung und Extraktion von negativen Ionen am Teststand BATMAN (Bavarian Test Machine for Negative Ions) [3].
Dabei ist es generell schwierig, genügend viele negative Wasserstoffionen zu erzeugen. Hauptsächlicher Grund ist die geringe Bindungsenergie des zusätzlichen Elektrons von nur 0,75 eV: Damit sind die fragilen Gebilde zwar einfach zu neutralisieren, aber auch leicht zu zerstören. Daher muss die Ionenquelle bei niedrigem Druck (< 0,3 Pa) betrieben werden, um weitere Verluste von negativen Ionen im Beschleunigungssystem zu minimieren. Zur Erzeugung dient deshalb ein Oberflächenprozess: Neutrale oder positive Wasserstoffteilchen werden an einer Quellenoberfläche zu negativen Ionen umgewandelt. Um die Effizienz dieses Prozesses zu erhöhen, wird in die Quelle Cäsium verdampft, das die Austrittsarbeit der Elektronen herabsetzt. Weil so die Plasmaerzeugung im "Driver" (Abb. 3) vom Entstehungsort der negativen Wasserstoffionen – in der Quelle nahe dem Gittersystem – räumlich getrennt ist, gelingt es einerseits, genügend neutrale und positive Teilchen zur Umwandlung bereitzustellen, andererseits jedoch deren Zerstörung durch schnelle Elektronen des Plasmas klein zu halten.
Mit BATMAN konnten erstmalig die geforderten physikalischen Parameter erreicht werden: Die nötige Ionenstromdichte wie auch der Anteil der mitextrahierten Elektronen in Wasserstoff und Deuterium wurden bei relevantem Quellendruck erreicht und sogar übertroffen. Wichtig für die Leistungsfähigkeit, Stabilität und Reproduzierbarkeit solch einer cäsierten Ionenquelle ist, dass sich das Cäsium gut in der Quelle ausbreitet und dass Verunreinigungen (im Wesentlichen Sauerstoff) vermieden werden, die das Cäsium passivieren und die Austrittsarbeit wieder erhöhen.
Allerdings hat die Ionenquelle an BATMAN nur etwa ein Achtel der für ITER vorgesehenen Größe; sie besitzt durch Limitierungen im Pumpsystem und in der Hochspannungsversorgung nur eine kleine Extraktionsfläche (< 74 cm2) und ist auf kurze Pulse beschränkt (< 4 s). Deshalb wurden die Experimente an zwei weiteren Testständen vorangetrieben: Am Teststand MANITU (Multi Ampere Negative Ion Test Unit), der von 2004 bis Juli 2011 in Betrieb war, konnte mit einer ähnlichen Ionenquelle der stationäre Betrieb demonstriert werden. Höhepunkt war der weltweit erste Deuteriumstrahl mit einer vollen Stunde Pulslänge. Der dritte Teststand RADI war bereits mit einer Quelle von der halben ITER-Größe ausgerüstet. Er nutzte Komponenten des Radialinjektors aus dem 2002 stillgelegten Fusionsexperiment Wendelstein 7-AS und war von 2006 bis Juli 2011 in Betrieb. Wegen fehlender Extraktionsmöglichkeiten konnte RADI aber keinen Teilchenstrahl erzeugen. An RADI wurde die Skalierbarkeit des IPP-Driverkonzepts demonstriert: die Quelle konnte homogen aus vier Drivern mit Plasma ausgeleuchtet werden.
Wegen der herausragenden Erfolge in diesem interdisziplinären Forschungsbereich wurde die Gruppe im Jahr 2006 für ihre wissenschaftlichen Erfolge mit dem Erwin-Schrödinger-Preis der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren ausgezeichnet. Im Jahr 2007 wurde die im IPP entwickelte Prototypquelle als Referenzquelle für ITER gewählt.
Damals waren die für eine ITER-Ionenquelle geforderten Parameter am IPP zwar erreicht, aber an verschiedenen Testanlagen. Um das Zusammenspiel der Parameter zu demonstrieren, wurde bereits 2008 mit Konzeptstudien für das Projekt ELISE begonnen. Die Extraktion aus einer Quelle mit halber ITER-Quellengröße ist ein bedeutender Zwischenschritt für die Größenskalierung (Abb. 3). Dieser Umstand, sowie die Möglichkeit, mit ELISE schnell in Betrieb zu gehen und experimentelle Ergebnisse für den Entwurf der ITER-Injektoren zeitnah zu liefern, ist ausschlaggebend für die rechtzeitige Verfügbarkeit ausreichender Heizleistung bei der 2019 geplanten Inbetriebnahme von ITER. Um Kosten und Zeit zu sparen, werden wichtige Komponenten von RADI (Hochfrequenz-System, Steuerung und Diagnostiken) und MANITU (Vakuumpumpen und Kryosystem) eingesetzt, was dazu führte, dass der Betrieb dieser beiden Testanlagen Mitte des Jahres 2011 eingestellt werden musste.
Status und Ziele
Der Teststand ELISE wird im Juni 2012 seinen Betrieb aufnehmen; derzeit läuft die Endmontage. Abbildung 4 zeigt ein bereits im Hochspannungs-Isolierflansch installiertes Gitter. Gut zu sehen ist die Anordnung der Extraktionslöcher, die der des ITER-Systems entspricht. In der zwei Jahre finanziell geförderten Experimentierphase will man die von ITER geforderten Parameter erstmals gleichzeitig in einer großen Hochfrequenz-Ionenquelle erreichen: Eine Stromdichte von 280 A/m2 in Wasserstoff und 200 A/m2 in Deuterium mit jeweils kleineren Stromdichten von mit-extrahierten Elektronen, stabil für eine Stunde bei einen Quellendruck von 0,3 Pa. Bei ELISE entspricht das einem Strom an negativen Wasserstoffionen von 28 A (H−) bzw. 20 A (D−).
Die Relevanz
Der ab 2012 zur Verfügung stehende Teststand ELISE ist ein wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zur Neutralteilcheninjektion an ITER. Neben den physikalischen und ingenieurtechnischen Erkenntnissen, die in die Optimierung der Ionenquelle für die ITER-Heizung einfließen, ermöglicht ELISE, rechtzeitig wertvolle Betriebserfahrung zu sammeln. Beides wird schon für die beiden europäischen Testanlagen von PRIMA (Padua Research on ITER Megavolt Accelerator) [4], die im italienischen Padua aufgebaut werden, von sehr hoher Relevanz sein: eine Anlage mit voller Quellengröße (Abb. 3) und 100 kV Beschleunigungsspannung (SPIDER), wird Ende 2014 in Betrieb gehen. Die Inbetriebnahme eines kompletten Neutralteilcheninjektionssystems mit der Beschleunigung eines Stroms von 40 A auf 1 MeV (MITICA) ist für 2017 geplant. Außer den beiden Neutralteilcheninjektoren, die für die Plasmaheizung sorgen und von Europa und Japan gemeinsam gebaut werden, ist für ITER auch ein Diagnostikinjektor – wie SPIDER mit einer Beschleunigungsspannung von 100 kV – vorgesehen, der ebenso auf der vom IPP entwickelten negativen Ionenquelle basiert und von Indien geliefert wird [5]. Deshalb hat auch Indien ein eigenes Entwicklungsprogramm aufgelegt und ist an der europäischen Entwicklung stark interessiert.
ELISE stellt somit das interdisziplinär arbeitende IPP-Team vor neue und spannende physikalische und technische Herausforderungen. Zugleich kann das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching mit ELISE seine weltweite Spitzenstellung auf diesem Forschungsgebiet weiter ausbauen und mit der rechtzeitigen Bereitstellung der Heiz- und Diagnostikinjektoren zum Erfolg von ITER beitragen.